»Für immer«
Als ich heute Morgen auf dem Weg zum Bahnhof
an diesem einen Hauseingang vorbeigelaufen bin, einem von vielen in
einer Reihe von immergleichen beigegrauen Wohnhäusern, habe ich an
dich gedacht. Und ich muss dir gestehen, dass dies nicht nur heute
der Fall war, ich denke jeden Morgen an dich, wenn ich auf dem Weg
zum Bahnhof an eben diesem Hauseingang vorbeilaufe. Ich weiss nicht,
ob du dich noch daran erinnern kannst aber du hast mich einmal - spät
nachts und betrunken - vor diesem Hauseingang geküsst. Es ist Jahre
her und wir haben nie wieder darüber gesprochen. Und dennoch,
seither ist er nicht mehr bloss irgendein Hauseingang für mich. Er
ist ein Teil meiner Geschichte geworden, unserer gemeinsamen
Geschichte, aufgeladen mit Bedeutung, die der Zeit standhält. Hast
du schon einmal darüber nachgedacht, dass jede Strasse, jeder Platz,
jede Tür, jede Ecke und jede Wegbiegung auf dieser grossen weiten
Welt für irgendjemanden mit persönlicher Bedeutung aufgeladen ist?
Wie unzählig viele und ganz unterschiedliche Sinngehalte und
Erinnerungen müssen sich über all die Jahre, die es gewisse
Strassen, Plätze, Türen, Ecken und Wegbiegungen bereits gibt, in
ihnen zusammengefunden haben... manchmal frage ich mich, ob das damit
gemeint ist, wenn von der so genannten »Seele der Dinge« die Rede
ist. Und ich frage mich weiter, ob all diese unzähligen Bedeutungen
und Geschichten den Dingen als ihre nicht stoffliche Substanz für
immer anhaften oder nur solange, bis das menschliche Vergessen
eintritt? Vielleicht wird dieser eine Hauseingang auch für mich
eines Tages bloss wieder einer von vielen in einer Reihe
immergleicher beigegrauer Wohnhäuser sein. Ich glaube aber, das
spielt gar keine Rolle. In der Zwischenzeit haben sich bereits andere
vor eben diesem Hauseingang geküsst, gestritten und versöhnt, waren
verzweifelt oder glücklich, sind hingefallen und aus eigener Kraft
wieder aufgestanden – immerfort und immerzu, sodass er im Grunde
niemals nur irgendein Hauseingang sein wird. Und weißt du was? Das
ist sie, meine ganz eigene und ungemein tröstende Vorstellung der
zwei kleinen aber feinen Worte »für immer«.
Quelle: https://www.facebook.com/emmadenkt
(Na, was haltet Ihr von der Idee, solche Geschichten hier
regelmäßig einfließen zu lassen? Alle paar Tage um 12.00 Uhr
mittags. )